Du bist nicht unbemerkt, nicht allein.
Tausend Milliarden Leben erblühen in deiner Gestalt, dem Universum der DNA, die du in dir trägst, nur 10% menschlich, der Rest kriecht und kratzt, saugt und fliesst: 90% Bakterien, Pilze, Schimmel.

Wo ist das „Ich“ in all dem? Wo sind die Grenzen?
Innen und aussen im ständigen Austausch. Ich atme ein, und Mycobacterium Vaccae dringt ein und löst Signale für „Glücks“- Neurotransmitter tief in meinem Kortex aus; ich öffne meine Augen, und Tageslicht strömt in mein Gehirn, meine Zirbeldrüse wird aktiviert, meine Zeituhr in Gang gesetzt.

Die Musik der Welt ist dies: die Sonne, die sich über den Himmel neigt, Muster von Licht und Schatten, die über die Erde flackern. Beobachte, wie sich die Blumen öffnen und schliessen, im Gespräch mit der Sonne. Das Leben pulsiert: Pilze, die ans Licht hervorbrechen, Blätter, die sich nach dem Regen entfalten. Das Volk der Karen in Thailand, so heisst es, hat sich entschieden, sich stets dieses Rhythmus bewusst zu sein, einatmen, ausatmen, in der Lage sein, die Zeit anhand des Musters der Düfte, die von den Bäumen und Blumen aufsteigen, der Veränderung in den Vogelstimmen zu verfolgen, jede Stunde des Tages hat ihre eigene Geräusch-Duft-Signatur.1

Einatmen, ausatmen, wir dehnen uns aus, ziehen die Welt in unsere Körper hinein, atmen sie wieder aus: CO2, Sauerstoff, wieder CO2. Wir tauschen unsere Gase mit denen der Pflanzen um uns herum aus; wir tauschen sie gegen unseren Atem ein. Wir verwandeln uns selbst, unsere Atome;

unsere Energie steigt und fällt wie eine Welle, Moleküle drehen sich im Licht. Tief im Innern jedes Blattes spiegelt die Architektur des Chlorophylls – seine das Sonnenlicht einfangenden Ringe – die molekulare Struktur des Hämoglobins, das den Sauerstoff in unserem Blut bindet.2 Rot, Grün, Rot; der zerdrückte Grashalm, der Bruch in unserem gebrochenen Fleisch.

Pireeni Sundaralingam, Kognitionswissenschaftlerin und Dichterin

Jay Griffiths: A Sideways Look at Time, New York 2004, S. 5.

2 „Im Zentrum des Chlorophyll-Moleküls befindet sich ein Magnesium-Ion, das unter dem Licht der Sonne elektronische Umwandlungen durchläuft. Der sauerstoffbindende Teil des Hämoglobinmoleküls im Blut hat eine ähnliche molekulare Struktur wie das Licht einfangende Auge des Chlorophylls, nur dass Eisen in all seiner Röte das Magnesium ersetzt.“ Philip Ball: Bright Earth. Art and the Invention of Color, Chicago 2001, S. 34.